30. November 2021

Mehr WIR – Weniger ICH

Pablo Magazin - Ausgabe 4-2021

Wie wir wieder zu mehr Gemeinschaftssinn finden

Unser Gespräch mit der Fachanwältin für Familienrecht und Mediatorin Marita Korn-Bergmann beginnt sie mit einem Zitat: „Unsere Gesellschaft gleicht einem Gewölbe, das zusammenstürzen müsste, wenn sich nicht die einzelnen Steine gegenseitig stützen würden.“ (Seneca d.J.)
Dieser Erkenntnis von Seneca der Jüngere (circa 1-65 n. Chr.), Philosoph, Naturforscher und Politiker im alten Rom hat nach wie vor Gültigkeit und hohe Aktualität. Zunehmend zeigen sich seit einiger Zeit - zumindest in unserer westlichen Gesellschaft - starke Tendenzen zu schwindendem Gemeinsinn und verstärkter Ich-Bezogenheit, in Corona-Zeiten besonders sichtbar geworden. Doch ohne sozialen Zusammenhalt und Rücksichtnahme auf Andere kann eine Gesellschaft nicht funktionieren.
„In unserer Gesellschaft wurde dem Individuum in den letzten Jahrzehnten immer mehr Bedeutung zugemessen. Der Einzelne hat inzwischen einen enorm hohen Stellenwert“. Dies hat die Anwältin sowohl in ihrer beruflichen Praxis als auch im Alltag beobachtet. „So wurde das Wir, der Gemeinsinn, immer mehr zurückgedrängt“. Jetzt glaubt sie, dass die gesunde Balance nicht mehr gegeben ist.

Aber was sind die Gründe dafür? 

„Die Gesellschaft hat sich natürlich entwickelt und verändert“, so Korn-Bergmann. Kernfamilien sind geschrumpft. Alte leben oft nicht mehr im Familienverbund. Ländliche Dorfgemeinschaften verschwinden zusehends. Soziale Verbände, Ehrenämter, Vereinswesen sind auf dem Rückzug. Das Erleben von und Auseinandersetzen in der Gemeinschaft findet in der Realität immer weniger statt und führt deshalb verstärkt zu Isolation und Egoismus. Ein Versicherungsdenken hat sich etabliert ohne zu hinterfragen, wer dieses Staatsgebilde ist, an das die Forderungen gestellt werden.
Hinzu kommen weitreichende Veränderungen durch Globalisierung und das Aufeinandertreffen vieler Kulturen. „Wir werden mit unbekannten Denkstrukturen und fremdem Verhalten konfrontiert, das verunsichert, macht Angst und führt zu Aggressionen“.
Gleichzeitig wächst die virtuelle Welt, reale Begegnungen nehmen ab. Das bleibt nicht ohne Folgen. „Ich nehme in meinem beruflichen Alltag als Familienrechtlerin und Mediatorin wahr, dass viele Menschen Beziehungen in der Realität schlechter leben können“, sagt sie. Sie nehmen sich nur durch die eigene Brille wahr. Nach Außen wird ein Wunschbild von der eigenen Person produziert. Der Drang nach Selbstdarstellung ist groß. Dies geht einher mit der Schwierigkeit, andere zu sehen und deren Andersartigkeit auszuhalten und zu respektieren. Missverständnisse und Konflikte sind die Folgen.
In Corona-Zeiten ersetzte das Virtuelle teils vollständig die echte Begegnung. „Die virtuelle Präsenz hat auch Vorteile, das persönliche Gespräch und das Miteinander kann sie nicht ersetzen“. 

Kann man dem entgegensteuern?

Ein Ansatz liegt bei den Kindern. „Ich würde mir wünschen, dass schon Kinder sehr früh beginnen, Kommunikationsformen in Kindergarten und in der Schule zu lernen: Wie kann ich mich erklären, ohne den anderen anzugreifen“. Möglichst früh sollten ihnen Fähigkeiten vermittelt werden sich selbst wahrzunehmen, zu reflektieren, sich auszutauschen, mit Anderen zusammen zu leben. Ein notwendiger Weg um unsere unreflektierten archaischen Grundmuster in Konflikten und Gefahren - Angriff, Verteidigung und Totstellen – zu überwinden.
Dabei müssen wir wachsam sein beim Medienumgang der Kinder und sie im Netz nicht allein lassen.
Aber auch für die Erwachsenen gilt:  Mehr Selbstreflexion üben, sich zurücknehmen, sich auch mal zu beschränken, Eigenverantwortung zu übernehmen. „Durch die notgedrungene Isolation ist uns bewusstgeworden, wie notwendig wir auf zwischenmenschliche Beziehungen angewiesen sind, wie wichtig der soziale Austausch und Kontakt ist.
Auch die Medien könnten und müssten mehr positiv berichten, was gut läuft und lief – etwa in der Corona-Krise. „Wir haben ein soziales Auffangsystem, das überhaupt nicht mehr geschätzt wird. Ich wünsche mir, dass hierüber öffentlich gesprochen wird. Es fehlt da an Dankbarkeit, Demut und sozialen Werten.“ In der Psychologie erlebe sie zum Glück die Tendenz, nicht nur immer nach Defiziten zu schauen, sondern auch danach: Was brauchen Menschen, um sich positiv zu entwickeln? Dazu zähle, menschliche Gefühle wie Enttäuschung, Traurigkeit, Hilflosigkeit und Verzweiflung, Wut und Angst nicht als schlecht oder gar krankhaft abzustempeln. Sie sind genauso notwendig und gut wie Freude, Glück, Zufriedenheit, Ruhe und Kraft. In Kindschaftsverfahren hört man oft, wer solch „negative Gefühle“ zeigt, hat sich nicht im Griff, ist gestört oder gar krank. In solchen Ausnahmesituationen wäre es allerdings eher krank, keine starken Gefühle zu entwickeln.“
Das gelte auch für Corona. „Die unbekannte Situation hat Angst gemacht, verunsichert. Niemand hatte sofort Erklärungen oder ein Mittel, um dagegen vorzugehen.“ Insofern müsse man auch hier feststellen: „Wir erschöpfen uns im Negativen. Wir haben das hierzulande doch gut hinbekommen! Schauen wir uns andere Länder an. Wir könnten und müssten anerkennen, wieviel Hilfe geleistet wurde und Verständnis zeigen auch für nicht verständliche oder gar Fehlentscheidungen von Politikern.
Für ein gutes Miteinander fällt ihr immer das Bild des Zahnrades ein, jedes Rädchen ist wichtig, ein Rädchen greift ins andere. Jeder hat seinen Platz im Gefüge. Nur so kann im Sinne von Seneca das Gewölbe unserer Gesellschaft stabil sein. „Wir haben immer die gleichen Grundbedürfnisse und Probleme zu bewältigen. Alles ist komplizierter geworden, aber wir haben heute auch mehr Möglichkeiten“, schliesst Marita Korn-Bergmann.

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